Gemeinsam gegen das Vergessen: Stolperstein-Putzaktion in Flörsheim
28.09.2025
28.09.2025
Am 28. September 2025 fand in Flörsheim erstmals eine besondere Aktion statt: Die Lebenshilfe Main-Taunus e.V. organisierte gemeinsam mit dem Stolperstein Flörsheim e.V. sowie dem Team SKYLINERS & Stuart4Kids eine Stolperstein-Putzaktion. Ziel war es nicht nur, die insgesamt zehn Stolpersteine an vier Stationen wieder in neuem Glanz erstrahlen zu lassen, sondern vor allem, die Geschichten der Menschen sichtbar zu machen, an die diese Steine erinnern.
Die Stolpersteine markieren den letzten freiwilligen Wohnort von Menschen, denen während der Zeit des Nationalsozialismus unfassbares Leid angetan wurde: Jüdinnen und Juden, politisch Verfolgte, Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen – sie alle wurden entrechtet, vertrieben, verschleppt oder ermordet. Durch das Reinigen der Stolpersteine wurde diesen Menschen ein kleines Stück Würde zurückgegeben, und ihre Geschichten rückten für einen Moment wieder in den Mittelpunkt.
Ein besonders bewegendes Beispiel für das, was damals geschah, sind die Brüder Martin und Jakob Altmeier aus Flörsheim. Martin Altmeier war einer von neun Geschwistern hatte eine Futtermittelhandlung und arbeitete mit seinem Schwager Robert Gerson. Er war fest in das Leben der Stadt eingebunden, engagierte sich ehrenamtlich und war aktives Mitglied des Sängerbundes, des traditionsreichen Flörsheimer Gesangsvereins. 1929 rettete er sogar einem neunjährigen Jungen das Leben, der im Main zu ertrinken drohte. Doch mit der Reichspogromnacht am 10. November 1938 änderte sich alles: Sein Geschäft und sein Zuhause wurden zerstört, er selbst verhaftet. Nach einer zwischenzeitlichen Flucht konnte er dem NS-Regime jedoch nicht entkommen. Am 2. Juni 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert und später ins KZ Mauthausen verschleppt, wo er am 3. Februar 1945 ermordet wurde.
Ganz anders verlief das Leben seines Bruders Jakob Altmeier. Er war bereits vor 1933 politisch aktiv, beteiligte sich 1918 an der Revolution in Frankfurt am Main und arbeitete als Journalist und Redakteur, unter anderem für die Volksstimme. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gelang ihm die Flucht, zunächst nach Paris, später auf den Balkan und nach Afrika. Er arbeitete im Exil als Journalist und für den britischen Geheimdienst, produzierte Widerstandsschriften und beteiligte sich am Kampf gegen das NS-Regime. 1949 kehrte er nach Deutschland zurück. Nach Kriegsende war Altmaier Mitglied des Deutschen Bundestages von dessen erster Legislaturperiode 1949 an bis zu seinem Tod sowie der Parlamentarischen Versammlung des Europarates von 1950 bis 1962. Er gilt als Wegbereiter des deutsch-israelischen Wiedergutmachungsabkommens von 1952, dem sogenannten Luxemburger Abkommen. Er bekannte sich zur jüdischen Religion und verstand sich als Repräsentant der jüdischen Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. 1954 wurde Jakob Altmaier Ehrenbürger der Stadt Flörsheim und 1963 auf dem Jüdischen Friedhof in Flörsheim bestattet.
Die Brüder Altmeier stehen stellvertretend für viele unterschiedliche Schicksale dieser Zeit: Während der eine in seiner Heimat fest verwurzelt war und schließlich von den Nationalsozialisten ermordet wurde, konnte der andere fliehen und kämpfte aus dem Exil gegen das Regime.
Ebenso erschütternd ist die Geschichte von Anna Maria Schick, die als „seelisch krank“ galt und in Flörsheim lebte. Sie wurde Opfer der sogenannten „Euthanasie“-Verbrechen der Nationalsozialisten. Unter dem zynischen Vorwand der „Gesundheitspflege“ wurden tausende Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen systematisch entrechtet, ausgegrenzt und schließlich ermordet. Ihr Name steht stellvertretend für all jene, deren Leben damals als „lebensunwert“ erklärt wurde.
Auch die Familie Halberstadt erlebte unermessliches Leid: Die Eltern wurden deportiert und ermordet, nur die Kinder konnten durch einen Kindertransport gerettet werden. Für Stuart Truppner, den Gründer von Team SKYLINERS & Stuart4Kids und selbst Amerikaner, war besonders bewegend, dass einige Familien – wie das Ehepaar Gerson – nach schrecklichen Jahren der Verfolgung schließlich in die USA auswandern konnten. Während Bertha Altmaier in Theresienstadt ermordet wurde, überlebte das Ehepaar Gerson die Deportation und konnte in den Vereinigten Staaten ein neues Leben beginnen.
Für die Klientinnen der Lebenshilfe Main-Taunus war die Putzaktion ein besonders emotionales Erlebnis. „Wenn ich sowas höre, dann werde ich traurig. So etwas darf nie wieder passieren!“, sagte eine Bewohnerin des Wohnhauses Flesch bewegt. Durch das gemeinsame Engagement von Lebenshilfe, Stolperstein Flörsheim e.V. und Team SKYLINERS & Stuart4Kids erhielten die Stolpersteine nicht nur neuen Glanz – sie rückten auch die Geschichten der Menschen wieder in das Bewusstsein der Flörsheimer Bürgerinnen.
Die Initiator*innen sind sich einig: Diese Aktion soll keine einmalige bleiben. Weitere Putzaktionen sind bereits in Planung, damit die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus lebendig bleibt und Werte wie Vielfalt, Inklusion und Teilhabe weiterhin sichtbar und erlebbar werden.
Jakob Altmaier